Einblicke in die Klasse gibt es weiter unten!
Warum wir neue Wege gehen
„An die Grenzen des traditionellen Schulsystems bin ich schon sehr oft gestoßen – jedem Kind gerecht zu werden, ihnen Entscheidungsspielraum zu geben, mehr Verantwortung zu übertragen, Raum für Selbstständigkeit zu schaffen, mit Störungen im Unterricht umzugehen und Zeit für Feedback, Gespräche und die Umsetzung eigener Ideen zu finden – all das war im herkömmlichen Unterricht nicht so möglich, wie ich es gerne gehabt hätte.“
So beschreibt die klassenführende Lehrerin Alexandra Kopf ihren Weg. Schon vor der Einführung des Churer Modells öffnete sie ihren Unterricht, doch die klassischen Tischgruppen blieben. Der entscheidende Impuls kam zufällig: das Video einer Lehrerin, die seit Jahren nach dem Modell arbeitete. „Innerhalb von Sekunden spürte ich meine Begeisterung und wusste, dass ich eine ähnliche Umstellung auch in meinem Klassenraum vornehmen wollte.“
Für uns als Schule war klar: Das ist mehr als ein neues Möbelarrangement – es ist eine Haltung zum Lernen.
Der Klassenraum als dritter Pädagoge
Das Churer Modell stellt den Raum als dritten Pädagogen ins Zentrum. Alexandra Kopf beschreibt:
„Schon durch das Verschieben von Regalen und Kästen, die in herkömmlichen Klassenzimmern meist fest an der Wand stehen, entsteht viel Platz für unterschiedliche Arbeitsplätze und Verkehrszonen. Gleichzeitig eröffnen sich viele Möglichkeiten, kleine und große Arbeitsflächen zu gestalten. Pflanzen und Farben spielen eine große Rolle und schaffen eine Lernwohnzimmeratmosphäre, die ein starkes Wohlgefühl auslöst.“
In der Klasse gibt es Tische in verschiedenen Höhen und Größen, viele Sitzgelegenheiten, Arbeitsplätze im Liegen, Knien, Hocken, Sitzen oder Stehen. „Teilweise erschaffen die Kinder sogar eigene Arbeitsplätze. Das schafft eine bewegte, lebendige und frohe Arbeitsatmosphäre, die dennoch Raum für Rückzug bietet.“
Eltern, die den Raum betreten, sprechen oft vom „anderen Gefühl“ – Kinder wirken freier, zugleich konzentrierter.
Lernen im Kreis – kurze Inputs, klare Struktur
Der Unterricht beginnt mit kurzen Inputs – meist im Kreis. „Zu lange Erklärungen oder endloses gemeinsames Üben sind weder für die Förderung noch für die Forderung sinnvoll. Die meisten Kinder schalten ab, und die Zeit ist letztlich verloren.“
Neue Stoffgebiete werden gemeinsam erarbeitet: mit Material, an der Tafel, manchmal beidem. Die Kinder sitzen so, dass jedes freie Sicht hat und mitschreiben kann. Danach gilt: Selbst entscheiden. Wer bereit ist, arbeitet allein oder zu zweit weiter. Wer noch Unterstützung braucht, bleibt im Kreis – und kann jederzeit in die Übungsphase wechseln.
Das ist gelebte Differenzierung: Kinder folgen einem gemeinsamen Start, wählen aber ihren eigenen Lernweg.
Differenzierte Tagespläne – Verantwortung lernen
Zentral sind die Tagespläne, die jedes Kind erhält. Sie enthalten differenzierte Aufgaben, abgestimmt auf den Lernstand, oft fächerübergreifend.
„Um Ziele zu definieren, gibt es täglich sogenannte Fertigmachaufgaben aus verschiedenen Bereichen. Diese sollen die Kinder spätestens in der Lernstunde erledigen – einer gemeinsamen Lernzeit am Nachmittag, in der sie von einer Lehrerin und einer Freizeitpädagogin begleitet werden.“
Wenn ein Kind Ziele nicht erreicht, wird reflektiert: Woran lag es? Welche Lösungen können wir finden? Hausübungen im klassischen Sinn lehnt Alexandra Kopf ab: „Von unrealistisch langen Aufgaben, die bei Nichtfertigstellung mit nach Hause genommen werden müssten, bin ich eine absolute Gegnerin.“ Stattdessen wird in der Lernstunde vertieft, geübt, abgeschlossen.
So lernen die Kinder, Verantwortung zu übernehmen – ohne Druck, aber mit klarer Struktur.
Freiheit braucht Verantwortung
Ein häufiges Missverständnis: „Gibt es nicht ständig Diskussionen um die beliebtesten Plätze?“ Alexandra Kopfs Antwort: „Nein. Es sind wirklich nur Ausnahmen, wie ein neuer, begehrter Sessel. Kinder finden selbst Lösungen – ‚Okay, dann arbeitest du in dieser Stunde dort und ich dafür in der nächsten.‘ oder ‚Schere, Stein, Papier!‘.“
Das funktioniert, weil die Kinder im Klassenrat von Anfang an Gesprächsregeln, Ich-Botschaften und Kompromissstrategien lernen. Jeden Montag reflektieren sie: War die Platzwahl passend? Soll ich nächste Woche etwas ändern? Diese Rituale geben der Freiheit Halt – und machen Verantwortung zur täglichen Übung.
Lehrkraft als Lernbegleiterin
„Für mich persönlich hat diese Art von Lernbegleitung eine Art Frieden mitgebracht.“
Alexandra Kopf beschreibt, wie sie heute mehr Zeit für individuelle Gespräche hat, sich neben Kinder setzt, ihnen hilft, wenn Konzentration schwerfällt, und auch selbst parallel arbeitet. Nicht alle erledigen dieselbe Seite im selben Moment – und gerade das schafft Freiraum.
Die Herausforderung: Vorbereitung. „Da ich nicht möchte, dass die Kinder nur Schulbuchseiten abarbeiten, erfordert das Erstellen von Lernaufgaben viel Zeit.“ Doch die Mühe lohnt sich: Mehr Nähe, mehr Freude, mehr Eigenständigkeit der Kinder.
Leistung sichtbar machen
Auch im Churer Modell gelten die offiziellen Beurteilungsregeln. Doch Alexandra Kopf setzt auf Feedback statt auf Belohnungen:
„Ich lehne Belohnungssysteme ab, da ich auf innere statt auf äußere Motivation setze. Lernen soll aus Interesse und Neugier erfolgen – nicht, weil eine Belohnung wartet.“
Kinder zeigen im Klassenrat, worauf sie stolz sind, und präsentieren im KEL-Gespräch ihre Lernwelt. Kreativität, Durchhaltevermögen und Freude zählen dabei ebenso wie fachliche Fortschritte.
Praktische Lösungen – gemeinsam gefunden
Am Anfang gab es viele Fragen: Wohin mit Schultaschen, Materialien, Trinkflaschen? Lösungen entstanden Schritt für Schritt – oft gemeinsam mit den Kindern: Taschen bleiben in der Garderobe, jedes Kind hat eine Box für Materialien, Flaschen stehen gesammelt am Waschbecken.
So wird auch Organisation zum Lernfeld: Strukturen sind nicht gegeben, sondern gestaltbar.
Vertrauen im Team
Dass Alexandra Kopf das Modell so konsequent umsetzen kann, liegt am Vertrauen in der Schule. „Die Umsetzung läuft sehr gut. Das liegt vor allem am absoluten Vertrauen und der Freiheit, die mir die Schulleitung entgegenbringt.“
Natürlich gab es Skepsis. Doch entscheidend ist, dass das Team die Entwicklung unterstützt und Eltern erleben, wie Kinder im Alltag aufblühen.
Zukunftsvision
„Seit ich meinen Unterricht nach dem Churermodell gestalte, könnte ich mir keinen Rückschritt vorstellen. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Ich entdecke regelmäßig neue Ideen. Für mich ist das der einzige Weg, im kleineren System etwas zu verändern – für die Kinder, aber auch für mich.“
Unser Wunsch: Schule wird dort besonders lebendig, wo Lehrer:innen, Kinder und Eltern bewusst diesen anderen Weg gehen – kooperativ, transparent und mit einer Haltung des Vertrauens.
Fazit:
Das Churer Modell ist kein Rezept, sondern eine Haltung. Es zeigt, wie Räume, Rituale und Verantwortung zusammenwirken, damit Kinder wachsen können – fachlich, menschlich, gemeinschaftlich.